Friedrich Stadler (Hg., gem. m. Eric Kandel, Walter Kohn, Fritz Stern und Anton Zeilinger), Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus. Die Folgen für die wissenschaftliche und humanistische Lehre, Wien u. New York 2004.

Das Buch ging aus dem gleichnamigen, im Juni 2003 an der Universität Wien abgehaltenen internationalen Symposium hervor, dass auf Anregung des Nobelpreisträgers Eric Kandel zustandekam. Als der Neurobiologe – während der nationalsozialistischen Herrschaft aus Wien vertrieben – im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin erhielt, schlug er vor, statt einer konventionellen Ehrung in Österreich ein Symposium abzuhalten, das den Umgang Österreichs mit der nationalsozialistischen Herrschaft und dessen Auswirkungen auf das intellektuelle Leben in Österreich thematisieren sollte.

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit

  • Barbara Weitgruber — 1
  • Georg Winckler — 3

Grußworte

  • Kardinal Franz König — 9
  • Hubert Markl — 11

Rückblick und Ausblick

  • Friedrich Stadler, Österreich und der Nationalsozialismus. Die Folgen für das intellektuelle Leben — 15

Reflexionen dreier Wissenschaftler

  • Eric Kandel, Der Einfluss Wiens auf mein Leben in den Vereinigten Staaten — 31
  • Walter Kohn, Mein verehrter Wiener Lehrer, Professor Doktor Emil Nohel — 43
  • Harry Lustig, Glücklich ist, wer nicht vergisst — 51

Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit

  • Evan Burr Bukey, How Revolutionary Was Nazi Austria? — 55
  • Clemens Jabloner, Österreichs Umgang mit der NS-Vergangenheit. Wege zur Historikerkommission — 71

"Vergangenheitsbewältigung" im Vergleich

  • Jean-François Bergier, Der Nationalsozialismus aus der Sicht der Schweizer — 85
  • Peter Pulzer, Der Umgang mit der Vergangenheit. Deutsche und österreichische Historiker im Vergleich — 93

Das Schicksal österreichischer Emigranten/innen und deren Einfluss in den Aufnahmeländern

  • Karl Sigmund, Versichern beruhigt: Tauber, Helly und die Wiener Phönix — 111
  • Friedrich Hirzebruch, Bemerkungen zum Exodus der Mathematik aus Deutschland — 127
  • Edward Timms, British Responses to the Refugee Crisis in the 1930s and the Intellectual Migration from Austria — 137
  • Ruth Lewin Sime, Twice Removed. The Emigration of Lise Meitner and Marietta Blau — 153
  • Gerald Holton, Gerhard Sonnert, What Happened to the Austrian Refugee Children in America? A Report from Research Project "Second Wave" — 171

Der Umgang mit dem Holocaust

  • Ruth Klüger, Holocaust unterrichten – wie? — 193
  • Raoul Kneucker, Holocaust: Unterrichten (in Österreich) – wie? — 197
  • Eveline Goodman-Thau, Hans Jonas. Vom Prinzip Verantwortung zum Prinzip Hoffnung — 203

Neuere österreichische Forschungen über Nationalsozialismus, Wissenschaft und Emigration

  • Mitchell G. Ash, Hochschulen und Wissenschaften im Nationalsozialismus und danach. Stand der Forschung und Projekte in Österreich — 213
  • Christian Fleck, Arisierung der Gebildeten. Vergleich zweier aus Österreich emigrierter Wissenschaftlergruppen im Kontext — 229
  • Werner Lausecker, Herbert Posch, "Arisierung", Berufsverbote und "Säuberungen" an der Universität Wien — 255

Buchpräsentation

Es versammelt die Beiträge des gleichnamigen Symposiums, das unter großem öffentlichen Interesse im Juni 2003 an der Universität Wien stattgefunden hat. Rund zwanzig österreichische und internationale WissenschafterInnen erörtern Themenbereiche wie Erinnern und Vergessen, Vertreibung und Emigration, Exodus der WissenschafterInnen, "Arisierung" und Berufsverbote an der Universität Wien.

Am 28. September 2004 wurde das Buch präsentiert und nach einer Begrüßung durch Rektor Georg Winckler folgt eine Podiumsdiskussion über Österreichs Umgang mit der NS-Zeit mit dem Wissenschaftshistoriker und Physiker Gerald Holton (Harvard University), Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel (Columbia University), Friedrich Stadler (Zeitgeschichte Universität Wien) und Anton Zeilinger (Experimentalphysik Universität Wien), moderiert von Prof. Dr. Helga Nowotny (Wissenschaftsforschung ETH Zürich).

 

Permanente Auseinandersetzung wichtig

Rektor Georg Winckler hielt in seiner Eröffnungsrede fest: "Die Universität Wien ist sich bewusst, dass ihr eigener Umgang mit dem NS-Thema in der Vergangenheit zu kritisieren ist und in diesem Zusammenhang ein Nachholbedarf besteht." Mit der Aufarbeitung und der Offenlegung ihrer eigenen Verstrickungen habe sie bisweilen zu lange gewartet, so Winckler weiter. "Als europäische Universität kann sich die Universität Wien nur dann positionieren, wenn sie ihre eigene Vergangenheit aufarbeitet", meinte der Rektor und verwies auf Projekte der jüngsten Zeit, neben dem Symposium beispielsweise die Wiederverleihung von Doktoraten an Absolventen wie Stefan Zweig oder Bruno Bettelheim, die in der NS-Zeit "... der Führung eines akademischen Grades unwürdig" erklärt worden waren.

Der Organisator der Veranstaltung, ao. Univ.-Prof. Dr. Friedrich Stadler vom Institut für Zeitgeschichte, freute sich in seiner Rede über die Arbeit zahlreicher AutorInnen, die zum Sammelband beigetragen und dadurch eine inhaltliche Vielfalt ermöglicht hatten. Der Zeithistoriker bezeichnete die Publikation als wichtigen Beitrag für die Exil- und Emigrationsforschung, ihm ging es vor allem darum, dass das Buch ein Stück selbstkritische Wissenschaftsgeschichte darstellt. Gleichzeitig sprach er sich gegen eine "Kultur des Vergessens" aus und bezog sich auf jüngste Umfragen über das schwindende Wissen über die NS-Zeit und das wachsende Desinteresse an der Politik.

Eric Kandel: "Daran erinnern, was verloren ist"

In seinem Redebeitrag "Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus. Rückblick und Lehren für die Zukunft" erinnerte Eric Kandel daran, was unwiderruflich verloren ist – anhand des Bildes einer „Stadt ohne Juden“ wie im Roman von Hugo Bettauer. Die akademische Gemeinschaft sollte deshalb versuchen, jüdische WissenschafterInnen zu ermutigen, ein Jahr als GastforscherIn in Wien zu arbeiten. Er regte weiters eine Diskussion über den Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich an und erläuterte die Folgen der Zerstörung der jüdischen Gemeinde für die Wissenschaft in Österreich. Für die Auseinandersetzung mit diesem brisanten Thema wünschte der Nobelpreisträger für Medizin Österreich die Kraft und Motivation für eine ehrliche Vergangenheitsbewältigung.

Im seinem im Sammelband enthaltenen Beitrag beleuchtet Kandel den Einfluss Wiens auf seine Karriere in den Vereinigten Staaten. Kandel, am 7. November 1929 in Wien geboren und 1939 von den Nationalsozialisten als Jude aus Österreich vertrieben, zählt zu den weltweit führenden NeurowissenschafterInnen. In Harvard studierte er zunächst zeitgenössische europäische Geschichte und Literatur und schloss Freundschaft mit Personen, deren Eltern Mitglieder des Freud'schen Kreises in Wien gewesen waren. Dadurch wuchs sein Interesse an der Untersuchung des menschlichen Geistes und er begann eine Ausbildung als Psychoanalytiker und Psychiater. 1974 kam Kandel an die Columbia University in New York, wo er das Zentrum für Neurobiologie und Verhalten gründete.

__ Bericht Online-Zeitung der Universität Wien vom  30. September 2004
__ Bericht Online-Zeitung der Universität Wien vom  22. September 2004
__ Bericht Online-Zeitung der Universität Wien vom  4. Juni 2003
__ Bericht Online-Zeitung der Universität Wien vom  26. Mai 2003

 

 

 

Zusammenstellung: Herbert Posch